Kipppunkte in der Bibel

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Kipppunkte in der Bibel

Was tun, wenn sich Entscheidungen nicht mehr rückgängig machen lassen?

Es gibt Punkte, an denen eine Grenze überschritten wird. Eine Tat lässt sich nicht mehr ungeschehen machen oder ein vermeintlich schleichender Prozess erreicht einen Punkt, der das Fass auf einmal zum Überlaufen und das System zum Kippen bringt. Welche solcher „Kipppunkte“ wir auch in der Bibel finden und was das letztendlich für uns bedeutet – darüber schreibt Bernd Sengewald hier.

Kipppunkte in der Natur
Es sind eisige Weiten in Grönland. Über achtzig Prozent der zwei Millionen Quadratkilometer Landfläche ist mit Eis bedeckt. Durchschnittlich ist das Eis 1,5 Kilometer dick. An manchen Stellen sogar über drei Kilometer. Das macht ein Volumen von mehr als zweieinhalb Kubikkilometern Eis aus. Würde dieses Eis vollständig abschmelzen, würde weltweit der Meeresspiegel um mehr als sieben Meter steigen.1 Und es schmilzt immer weiter ab. Seit der Jahrtausendwende fällt nicht mehr genug Schnee und immer mehr Boden liegt frei. Boden aber, der nicht mehr mit Schnee bedeckt ist, wärmt sich schneller auf. Gleichzeitig wird die Eisdecke immer dünner und befindet sich dadurch mit ihrer Oberfläche in wärmeren Luftschichten. Das Eis taut noch schneller und auch das Schmelzwasser reflektiert das Sonnenlicht nicht so gut wie das Eis. Lauter kleine Veränderungen. Für sich genommen macht das vielleicht nichts aus. Aber zusammengenommen addieren die Effekte sich nicht nur, sie multiplizieren sich. Irgendwann ist der Effekt unumkehrbar, und auch vor diesem Punkt lässt er sich nur sehr schwer verlangsamen und noch langsamer umkehren.2 „Kommt ein System an einen Kipppunkt, ändert sich sein Zustand, und zwar nicht etwa gleichförmig, sondern sprunghaft.“3 Der Eisschild Grönlands ist nur eines von vielen miteinander verbundenen komplexen Systemen dieser Erde.4 Diese stützen sich gegenseitig,5 kippt eines, sind auch die anderen davon betroffen und es kann zu einer Kaskade von Veränderungen kommen.6

Ein System, welches gekippt ist, wird hinterher nie wieder das Gleiche sein. So wie ein See, wenn er einmal umgekippt ist. Er wird vielleicht einen anderen stabilen Zustand finden, aber nie wieder der gleiche sein. Oder wie unsere Zellen, die am Anfang der Entstehung eines Menschen im Mutterleib denselben genetischen Bauplan haben (sie sind „totipotent“) und im Laufe der Zellvermehrung immer mehr Zellen entwickeln, die sich spezialisieren. Z.B. Haut-, Leber- oder Muskelzellen werden. Haben sich Zellen erst einmal spezialisiert, ist der Prozess nicht mehr umzukehren. Illustriert wird dieser Prozess gerne mit einer Murmel, die ganz oben von einem Gebirge in die Täler hinabrollt. Ist sie erst einmal in eines der Täler gerollt, kann sie nicht mehr zu einem Nachbartal wechseln, sondern muss immer weiter abwärtsrollen und wird mit jeder weiteren Verzweigung des Tales immer wieder nur eine der Verzweigungen hinabrollen können.7

Kipppunkte in der Bibel
Auch bei Adam und Eva ändern sich alle Verhältnisse sprunghaft, nachdem sie von der Frucht gegessen haben. Die gute Beziehung zu Gott zerbricht, es gibt gegenseitige Beschuldigungen, Schmerzen kommen auf, die Arbeit wird mühsam und der Tod nach einem harten Leben hält Einzug (1 Mose 3).

Es gab eine einzelne Handlung von Adam und Eva (die Frucht nehmen und essen), und diese konnte ganz offensichtlich nicht durch eine einzelne Handlung revidiert werden, sondern braucht eine zeitlich und aktionsmäßig vielfach längere Erlösungsstrategie, um wieder ein gutes, lebenswertes und stabiles System zu schaffen.8

Interessanterweise ist das neue System, das Gott schaffen wird, nicht mehr identisch mit dem vom Anfang. Wenn der neue Himmel und die neue Erde geschaffen worden sind, dann befindet sich der Regierungssitz Gottes auf der neuen Erde, die zweite Person der Gottheit – Jesus Christus – hat sich für immer mit dem Menschlichen verbunden und die Erlösten regieren mit Gott – um nur ein paar Beispiele zu nennen.9

Erstaunlich ist immer wieder Gottes Gnade und Langmut mit seinem Volk oder auch mit einzelnen Personen. Als er die Israeliten aus Ägypten rief – das war ca. das Jahr 1.450 v. Chr. – da schloss er einen Bund mit ihnen und sagte ihnen auch, was alles zu diesem Bund gehört. Doch das Volk Gottes hielt sich oft nicht daran. Immer wieder schickte Gott Propheten, die die Abweichungen des erwünschten Verhaltens anprangerten. Doch es wurde laut den biblischen Berichten nicht besser. Und ähnlich, wie die Eismasse Grönlands immer weiter wegerodiert und die Gefahr immer größer wird, den Kipppunkt zu erreichen, so erodierte auch die Festigkeit des Bundes zwischen dem Volk Israel und Gott immer weiter – bis es zum Kipppunkt kam. 722 v. Chr. wurden die zehn Stämme Israels weggeführt und kehrten nie wieder zurück. Die Wegführung der beiden Stämme Juda und Benjamin nach Babylon folgte um 600 v. Chr. Sie hatten zwar die Verheißung, dass sie wieder in das Gelobte Land zurückkehren würden, aber bei den die Rückkehr begleitenden Prophezeiungen (z.B. Dan 9,24-27) ist zu sehen, dass schon Plan B initiiert worden war. Die Bedingungen waren gekippt und ein verändertes Erlösungsgeschehen nahm seinen Lauf.

Wir als Einzelne
Viele kleine Entscheidungen in unserem Leben scheinen erst einmal keine großen Auswirkungen zu haben. „Einmal ist keinmal!“, wird gerne gesagt. Doch die Wirklichkeit ist wohl anders. Als König David auf dem Dach seines Königspalastes flanierte, da sah er etwas, was seinen Augen gefiel. Er ließ sich verleiten seine Macht auszunutzen, Batseba zu sich in den Palast zu holen und mit ihr zu schlafen. Um seine Sünde zu kaschieren, griff er erst zur List, und als diese nicht gelang, ließ er einen treuen Untergebenen ermorden (1 Sam. 11,1-27). Vom Propheten Nathan zur Rede gestellt (1 Sam 12,1), bekannte er sich schuldig, wodurch zwar seine Todesstrafe aufgehoben wurde (1 Sam 12,13), aber die Folgen seiner Taten sein gesamtes Leben lang spürbar waren. Die Feinde des Herrn wurden zum Lästern gebracht (1 Sam 12,14), der neugeborene Sohn starb und zum Schluss waren es insgesamt vier seiner Söhne, die ums Leben kamen.10 Davids Beziehung zu Gott wurde verändert, er selbst war gebrochen, sein Einfluss bei seinen Untertanen geschwächt, „das Bewusstsein seiner Schuld ließ ihn schweigen, wo er die Sünde hätte verurteilen müssen“11, und durch das Verhalten seiner Söhne nahm viel Unheil seinen Lauf, wie z.B. Vergewaltigung, Mord, Intrige und Krieg (2 Sam 13-18). Viele kleine Dinge verstärken einander. Am Anfang merkt man es vielleicht nicht so sehr, aber es kann so weit anwachsen, dass wir als Menschen in letzter Konsequenz unser Heil verlieren können. Im Zusammenhang mit seiner Verwerfung durch die Pharisäer spricht Christus es an: Dauernde Ablehnung des Wirkens des Heiligen Geistes kann dazu führen, dass man für seine Stimme taub wird und uns dessen rettender Einfluss dann nicht mehr erreichen kann.12 Der Pharao verhärtete sein Herz gegen Gott immer mehr13 und Judas Iskariot wehrte sich gegen Jesu Werben, bis es zum unumkehrbaren Ende kam.14

Von daher tun wir gut daran, den Rat von Paulus aus Römer 12,2 zu beherzigen: „Deshalb orientiert euch nicht am Verhalten und an den Gewohnheiten dieser Welt, sondern lasst euch von Gott durch Veränderung eurer Denkweise in neue Menschen verwandeln.“ Wenn wir uns für „ein Tal“ entscheiden, dann am besten mit und für Gott. Petrus sagte zu Pfingsten, dass Umkehr, also Ausrichtung auf Jesus Christus, ein ganz wichtiger Schritt ist, um nach der Taufe den Heiligen Geist zu empfangen (Apg 2,38). Wenn der Heilige Geist in einem wohnt, dann wohnen gleichzeitig auch Jesus Christus und Gott Vater in einem (Joh 14,16-20). Wir sind dadurch zu „einer neuen Kreatur“ geworden (2 Kor 5,17). Wir wurden zu Kindern Gottes (Joh 1,12). Durch das Wirken des Heiligen Geistes werden Früchte sichtbar (Gal 5,22) und es ist wichtig, dass wir auf Dauer eng mit ihm verbunden bleiben (Eph 4,30) und fest werden im Glauben (Eph 4,11-16). Sollten wir einmal im Glauben stehend entschlafen, dann werden wir zu den Geretteten gehören (Offb 2,10c; 7,9-17). Ein Geschenk, welches uns für immer gehören wird und das uns niemand nehmen kann.

Kurzgefasst: Jede Gewohnheit hat eine bestimmte Kraft und zieht in eine bestimmte Richtung. Auf Dauer prägen diese unseren Charakter und damit unser Leben. Horace Mann soll gesagt haben: „Gewohnheiten sind wie ein Kabel. Wir flechten jeden Tag einen Strang dazu, und bald können sie nicht mehr reißen.” Wenn wir positive Gewohnheiten entwickeln, werden sie sich gegenseitig verstärken. Genau das werden aber auch negative Gewohnheiten tun. Und irgendwann laufen die Dinge möglicherweise in erdrutschartiger Geschwindigkeit ab. Nicht umsonst hat Salomo den Spruch geprägt: „Achte auf deine Gedanken und deine Gefühle, denn sie beeinflussen dein ganzes Leben” (Spr 4,23), und passend dazu ließ Paulus aufschreiben: „Richtet eure Gedanken auf das, was gut ist und Lob verdient, was wahr, edel, gerecht, rein, liebenswert und schön ist“ (Phil 4,8).

„Disclaimer“
Interdisziplinäres Arbeiten wird immer mehr zur Normalität und entsprechend in der Forschung umgesetzt.15 Dabei sollte man bei der Übertragung von Naturgesetzen auf Geistliches natürlich Vorsicht walten lassen, aber aus meiner Sicht scheint es bei komplexen Naturphänomenen, die sich gegenseitig verstärken, starke Parallelen zu unserem geistlichen Leben zu geben. Vielleicht kann der ein oder andere meine Faszination teilen.

Quellen:
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%B6nl%C3%A4ndischer_Eisschild, zugriff 03.10.2022
2 Maja Göpel: Wir können auch anders – Aufbruch in die Welt von morgen, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022, S. 64-65 3 Göpel, aao., S. 58
4 Andere Systeme sind z.B. das Klima, der Zustand der Ozeane, die Menge des Süßwassers, die Biodiversität und die Fläche der Erde, die mit Wald, Mooren und Grasland bedeckt ist; Göpel, aao., S. 45
5 Göpel, aao., S. 41
6 Göpel, aao., S. 61-62
7 Dirk Brockmann: Im Wald vor lauter Bäumen – Unsere komplexe Welt besser verstehen, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, 2. Aufl. 2021; S. 125-128.135-139
8 Ellen White schreibt: „Eine unrechte Tat lässt sich nicht ungeschehen machen. So kann es kommen, dass ein ganzes Lebenswerk nicht aufzuwiegen vermag, was in einem einzigen Augenblick verlorenging, weil man der Versuchung nachgab oder nur gedankenlos war.“ Ellen G. White: Wie alles begann, gr. A., S. 330
9 Offb 21,1-5.23-22,5; 3,21; Joh 20,24-29
10 Der erste Sohn Davids mit Batseba (2 Sam 12), Amnon (2 Sam 13), Absalom (2 Sam 18) und Adonija (1 Kö 1). Siehe Davids eigener Urteilsspruch: „Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen, weil er das getan und sein eigenes geschont hat.“ (2 Sam 12,6)
11 EGW, WAB, 551.552
12 Mt 12,22-32: „Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben (V. 31); vgl. Jak 1,13–15 (LU): „Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seiner eigenen Begierde gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.“ Der Sieg der Liebe, S. 243: „Wer (Gottes) Licht verschmäht, dessen Augen werden blind und dessen Herz verhärtet sich. Dies ist ein schleichender Vorgang und wird kaum wahrgenommen.“ S. 245: „Jeder ablehnende Schritt Christus gegenüber bringt uns einen Schritt näher dazu, die Erlösung zu verwerfen und die Sünde gegen den Heiligen Geist zu begehen.“
13 2 Mose 4,21; 7,3.13.14.22; 9,34; 1 Sam 6,6; vgl. ABC, Bd. 1, S. 516-517; EGW, WAB, S. 197-198
14 Joh 14,27.30; Mt 27,3-5; Der Sieg der Liebe, S. 552-557
15 Dirk Brockmann, aao., S. 13-21; Siehe z.B. auch: Manjana Milkoreit, u.a.: Defining tipping points for social-ecological systems scholarship—an interdisciplinary literature review, OPEN ACCESS https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/aaaa75

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