Leben
Fit im Kopf
Dr. Neil Nedley im Interview über Gefühle und mentale Gesundheit
Ob Depression oder Burnout: Psychische Erkrankungen treten immer häufiger auf, auch unter uns Adventisten. Dr. Neil Nedley, Facharzt für Innere Medizin in den USA, beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit diesem Thema und ist weltweit besonders für sein erfolgreiches Anti-Depressions-Programm bekannt. Im folgenden Interview zeigt Dr. Neil Nedley auf, wie wir mentale Krankheiten vermeiden und dabei gleichzeitig unsere emotionale Intelligenz verbessern können.
Bruder Nedley, die meisten von uns wissen, was der IQ, der Intelligenzquotient, ist. Aber kannst du erklären, für was genau der EQ steht?
Der EQ steht für die emotionale Intelligenz einer Person. Es handelt sich dabei im Grunde genommen um die Fähigkeit, die eigenen Gefühle sowie die Gefühle von anderen zu verstehen und auf gesunde Art darauf zu reagieren und einzugehen. Dazu müssen wir unsere Emotionen kennen und uns bewusst sein, was wir fühlen und warum wir so fühlen. Außerdem gehört dazu, dass wir lernen, unsere Gefühle zu steuern. Menschen mit einer niedrigen emotionalen Intelligenz werden von ihren Emotionen kontrolliert. Personen mit einem hohen EQ haben ihre Gefühle unter Kontrolle. Unsere Gefühle „im Griff zu haben“, ist ein wesentlicher Bestandteil für ein psychologisch erfülltes Leben. In vielen Studien ist auch von Selbstbeherrschung die Rede.
Welche Faktoren beeinflussen denn unsere emotionale Intelligenz?
Vieles spielt eine Rolle ... natürlich die genetische Veranlagung, aber auch unsere Erfahrungen in der Kindheit. Sogar was wir essen, ist relevant und wie viel wir uns bewegen. Doch das wichtigste Element dabei sind unsere Gedanken, die wirklich jeden Moment einen Einfluss auf uns haben. Das heißt: Gedanken, die uns emotional aufwühlen und negativ sind, führen so gut wie immer zu einer Verzerrung der Realität, einem verdrehten oder sogar zu einem komplett falschen Denken – auch wenn eine Situation für uns logisch und rational erscheint. Und das ist einer der Hauptgründe für Depressionen, Burnout und andere emotionale Beschwerden.
Zusammengefasst heißt das: Ob wir uns glücklich, traurig, verbittert oder enttäuscht fühlen, wird hauptsächlich davon bestimmt, was wir glauben, wie wir Ereignisse bewerten, wie wir über Probleme denken und welche Botschaften wir in unseren „stummen Selbstgesprächen“ jede Sekunde an uns senden.
Gibt es Wege, wie wir daran arbeiten und unsere emotionale Intelligenz verbessern können?
Ja, absolut! Mit dem Programm, das wir in unserer Klinik anbieten, verbessern wir die emotionale Intelligenz der Patienten immens. Zuerst betrachten wir die Verhaltensweisen der Person. Wir passen die Ernährung entsprechend an, es gibt ein Sportprogramm, die Leute bekommen einen ausgewogenen tageszeitlichen Rhythmus – und dann beginnen wir, an den Gedanken zu arbeiten. Sie lernen, wie sie ihre Gedanken analysieren können, um zu prüfen, ob diese verzerrt sind. Oftmals vergrößern Menschen eine Sache, indem sie Wörter wie „schrecklich“, „furchtbar“ oder „schlimm“ benutzen. Die Verwendung dieser Begriffe ist grundsätzlich nicht problematisch, führt aber dazu, dass unsere Gefühle aktiviert werden. In meinem Buch „The Lost Art of Thinking“ (Die verloren gegangene Kunst des Denkens) gebe ich den Lesern Werkzeuge an die Hand, wie sie negative und verzerrte Gedanken korrigieren und die eigene emotionale Intelligenz dadurch steigern können.
Kannst du ein Beispiel dafür geben?
Klar, beispielsweise gibt es da die „emotionale Begründung“. Sie sagt uns, dass unsere Gefühle nicht lügen. Wenn du dich also überwältigt und hilflos fühlst, bedeutet das, dass deine Probleme unmöglich gelöst werden können. Wenn du dich verärgert und wütend auf jemanden fühlst, dann beweist dies, dass jemand dir gegenüber gemein und unsensibel war (schmunzelt). Deshalb müssen wir lernen, dass Gefühle kommen und gehen, und dass sie täuschen können. Sie basieren nicht immer auf Fakten.
Warum ist dieses Thema deiner Meinung nach so relevant für uns als Adventisten?
Adventismus ist eigentlich ein System von Wahrheiten. Und hier geht es um Wahrheit in unserem Denken. Die Wahrheit hochzuhalten, ist wichtig. Doch oftmals schauen wir eher von einer externen Perspektive auf die biblischen Wahrheiten, anstatt uns zu fragen: Sind meine Gedanken wahrhaftig?
Du hast bereits das Thema Depression angeschnitten. Die Zahl der Menschen, die an Depressionen leiden, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen – auch unter Adventisten. Wie erklärst du dir das?
Depression hat immer eine Ursache, sie taucht nicht einfach so auf. Es gibt auch hier wieder mehrere Faktoren, die zusammenwirken. Erfahrungen und Erlebnisse aus der Kindheit sind eine häufige Ursache: Es gibt viele Menschen, die nicht mit beiden biologischen Elternteilen oder in einem zerrütteten Elternhaus aufwachsen. Leider spielt sexueller Missbrauch immer öfter eine Rolle – auch in adventistischen Heimen ...
Außerdem ist für unsere emotionale Gesundheit ein frühes Zubettgehen und frühes Aufstehen am besten. Aber mit all den technischen Geräten, die uns auf Trapp halten, gehen die Leute immer später ins Bett. Und das beginnt dann ihren Schlafrhythmus zu beeinflussen; es wird nicht mehr so viel vom Schlafhormon Melatonin produziert – das kann irgendwann ebenfalls zu einer Depression führen. Genauso wie die Geräte, zum Beispiel Handys und Smartphones, an sich. Denn wir stimulieren uns ständig mit verschiedenen Reizen, indem wir online von einer Sache zur nächsten springen. Irgendwann verlernen wir dadurch, uns auf eine Sache zu fokussieren.
Übrigens haben Untersuchungen gezeigt, dass Personen mit Burnout fast identische Symptome wie Menschen mit einer Depression aufweisen. Die Ursachen dafür liegen ebenfalls nah beieinander.
Welchen Rat würdest du als Spezialist auf diesem Gebiet jemandem geben, der ein mental gesundes Leben führen möchte? Was können wir tun, um Depressionen, Burnout und andere mentale Krankheiten zu vermeiden?
Körperliche Aktivität und Bewegung sind ein entscheidender Schlüssel – am besten noch vor dem Frühstück. Viele Personen, die an Depressionen leiden, machen keinen Sport und bewegen sich nicht viel. Etwa sieben Kilometer flottes Gehen am Tag regt die Gehirnchemie an. Konsequente Zubettgehzeiten, auch am Wochenende, lassen das Gehirn ebenfalls besser arbeiten; je früher man ins Bett kommt und wieder aufsteht, umso besser. Dabei sollte man seine Aktivitäten an Bildschirmen besonders in den drei Stunden vor dem Schlafengehen begrenzen oder ganz weglassen, weil dadurch der Melatonin-Ausstoß verringert wird.
Dann hat natürlich unsere Ernährung einen entscheidenden Einfluss auf unser Gehirn. Das Problem ist in der Regel die sogenannte Arachidonsäure in Nahrungsmitteln, die eine Entzündung erzeugt und die wir ganz einfach vermeiden können, indem wir auf Fleisch, Fisch und Eier verzichten. Bei einer Umstellung auf eine pflanzenbasierte Ernährung merken wir bei unseren Patienten bereits nach zwei Wochen, dass ihr Depressionslevel um fast die Hälfte sinkt. Dafür ist vor allem ein ausreichender Gehalt an Omega-3-Fettsäuren im Essen verantwortlich sowie gewisse Aminosäuren, die gut für das Gehirn sind. Diese Elemente helfen dem Gehirn, mehr Serotonin, ein Hormon, das für unsere positive Stimmung verantwortlich ist, und mehr vom antriebsfördernden Nervenbotenstoff Dopamin zu produzieren. Vor 35 Jahren haben Mediziner übrigens noch zum Verzehr von Fisch geraten, weil das Omega-3 darin gut für das Gehirn sei. Doch heute beweisen Studien, dass der hohe Gehalt an Quecksilber in Fischen bei weitem die positive Wirkung des Omega-3 übertrifft! Es ist ein Gift, das Konzentrationsmangel und Gehirnnebel verursacht.
Ich empfehle den Leuten außerdem, dass sie sich eine Freizeitbeschäftigung suchen, bei der sie mit ihren Händen dreidimensional arbeiten. Das kann Gartenarbeit oder das Erlernen eines Musikinstruments sein. Am besten jeden Tag zwanzig Minuten lang. Das hat einen sehr positiven Einfluss auf unser Gehirn. Deshalb stehen beispielsweise Chirurgen sehr weit unten auf der Liste, wenn es um Depressionen und Burnout geht.
Ein aktives Andachts- und Gebetsleben fördert ebenfalls unsere mentale Gesundheit. Wir sollten dabei lernen, die eigenen Gedanken zu analysieren. König David betete einmal: „Durchforsche mich, o Gott, und sieh mir ins Herz, prüfe meine Gedanken und Gefühle!“ (Psalm 139,23 Hfa) Mit anderen Worten: „Ich sehe keine Verzerrungen meiner Gedanken, aber ich weiß, Herr, dass du sie siehst. Also zeige sie mir.“ Diese Haltung brauchen wir: die Bereitschaft, uns selbst und unser Denken zu prüfen. Ich bin überzeugt, dass der Heilige Geist uns dabei helfen kann, wenn wir offen dafür sind.
Wir sollten außerdem sicherstellen, dass wir nicht Sklaven irgendeiner Abhängigkeit sind, die auch bei uns Adventisten nicht selten vorkommt. Abhängigkeiten von Pornografie, Alkohol, Drogen oder Glücksspielen. Auch das suchtartige Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln gehört dazu .... Vierzig Prozent der weiblichen Bevölkerung ist abhängig von Schokolade (schaut mich an und lacht).
Ich fühle mich ertappt ... (allgemeines Gelächter) Das Interessante ist, dass viele von uns diese Prinzipien kennen, aber dennoch nicht immer so umsetzen, wie wir es gerne würden. Ich frage mich immer wieder: Woran liegt das?
Ich glaube, dass Zeitmanagement dabei eine entscheidende Rolle spielt. Wir müssen lernen, Zeit für Dinge zu investieren, die von langfristigem Nutzen sind – und nicht für kurzfristige Angelegenheiten, die dringend erscheinen. Was du außerdem ansprichst, hat auch hier wieder mit Selbstbeherrschung zu tun. Und um mehr Selbstbeherrschung zu lernen, müssen wir an unserer emotionalen Intelligenz arbeiten. Wenn du nämlich nicht genügend Selbstbeherrschung hast, bist du unfähig, deine emotionalen Impulse zu kontrollieren. Erst wenn wir lernen, unsere Gefühle zu kontrollieren, wird auch unsere Selbstbeherrschung wachsen.
Gibt es etwas Besonderes, das du machst, um dich mental fit zu halten?
(schmunzelt) Also ich versuche auch nach diesen Prinzipien zu leben (fängt an zu lachen). Dabei achte ich vor allem auf ausreichend Bewegung. Außer es ist wirklich ein extrem voller Tag und ich bin die ganze Nacht im Flieger unterwegs ... Doch selbst dann versuche ich, zum Beispiel joggen zu gehen; aber auch Aerobic-Übungen sind empfehlenswert. Neben der Andacht ist Sport eine Priorität, die ich mir gesetzt habe. Studien haben gezeigt, dass Bewegung sogar wichtiger ist als Schlaf. Das heißt: Wenn ich Abstriche machen muss, dann mache ich das beim Schlaf – aber ich achte trotzdem darauf, dass ich mich genügend bewege. Viele Menschen treiben keinen Sport, weil sie meinen, sie bräuchten genügend Schlaf. Aber Tatsache ist, dass sie gesünder leben würden, wenn sie weniger schlafen und sich mehr bewegen würden.
Wie viel Schlaf ist denn gesund für uns?
Wir brauchen ein Minimum an sechs Stunden Schlaf. Im Durchschnitt reichen sieben bis acht Stunden aus. Alles, was über neun Stunden geht, ist schlecht für unser Gehirn.
Gibt die Bibel uns auch Ratschläge für ein mental gesundes Leben?
Oh ja, sehr viele sogar! Aus den Geschichten über Elia, Saul, Salomo oder Jona können wir einiges lernen – sie alle hatten Probleme, die mit ihren Gefühlen zu tun hatten. Die Bibel spricht an vielen Stellen darüber, wie man mit Wut und Bitterkeit umgeht, über das Bedürfnis nach Vergebung und davon, wie unsere Dankbarkeit, Freundlichkeit und Liebe wachsen können. Die Bibel ist wahrscheinlich mehr ein Buch über Emotionen als über den IQ.
Was genau war denn das Problem von König Salomo?
Salomo wurde stark depressiv ... und er therapierte sich selbst mit Sex. Eine Frau war nicht genug, zwei Frauen nicht, drei Frauen nicht, und auch 300 Frauen reichten nicht aus. Er war der Prototyp eines Pornografie-Abhängigen – nur dass seine Pornografie in der Realität geschah. Je öfter du es jedoch tust, desto weniger stellt es dich zufrieden. Und irgendwann, in Zeiten, wenn eigentlich nichts Schlimmes in deinem Leben passiert, ist deine Gehirnchemie im Keller und du fühlst dich mies. Dann beginnst du es zu tun, um die negativen Gefühle auszuschalten und dich damit zu betäuben. Salomo war unmotiviert und hoffnungslos ... Doch wenn es Hoffnung für ihn gab, dann gibt es Hoffnung für jeden! Als er seine Depression überwand, schrieb Salomo das Buch Prediger, um jeden jungen Menschen davor zu warnen, sich selbst mit solchen Dingen zu behandeln. Er therapierte sich ja nicht nur mit Pornografie, sondern auch mit Alkohol und anderen damaligen Drogen. Doch er hörte auf damit und folgte dem Rat des Propheten, als dieser zu ihm kam und ihm ankündigte, dass sein Königreich ihm genommen werden würde.
Und was können wir deiner Meinung nach aus Sauls Geschichte hinsichtlich unserer Gefühle lernen?
Saul war anfangs in toller Verfassung: demütig, sympathisch, schön anzusehen. Er war mutig und barmherzig gegenüber seinen Gegnern. Aber wie sagt ein Sprichwort so schön: „Macht verdirbt den Charakter.“ Als das Volk nach einem Kampf mehr Lobeshymnen auf David als auf ihn sang, wurde sein emotionaler Stolz verwundet. Ein überhöhtes Selbstbewusstsein brachte also die Tragödie ins Rollen. Das ist Vielen heutzutage nicht bewusst: Was zu Gefühlen der Wertlosigkeit führt, ist im Endeffekt ein hohes Maß an Arroganz und Stolz. Wenn diese Dinge angegriffen werden, beginnen wir uns wertlos zu fühlen. Das erlebte auch Saul, und er versuchte sich durch Harfenmusik zu therapieren. Das hilft tatsächlich, den Frontallappen zu stimulieren ... Aber er lernte nicht, seine verzerrten Gedanken dauerhaft zu korrigieren. Und in einer Situation unter starkem Stress nahm er sich das Leben. Das hätte nicht sein müssen, wenn er sich mit seinen verzerrten Gedanken auseinandergesetzt hätte.
Du hast jetzt schon einige Male unser Gehirn erwähnt und die Auswirkungen unseres Lebensstils darauf. Dabei betonst du immer wieder den Frontallappen. Was hat es damit auf sich?
Ja, das stimmt. Den Frontallappen bezeichne ich auch gerne als die Krone des Gehirns. Es ist das Kontrollzentrum des gesamten Gehirns und der Sitz unserer Spiritualität, der Moral und des Willens. Wenn aber das Kontrollzentrum geschwächt wird, übernehmen andere Teile des Hirns die Macht – wie etwa das Limbische System, wo auch der Sitz unserer Emotionen ist. Um es einfacher auszudrücken: Das Unterhirn sagt uns, dass wir Hunger haben. Wenn unser Frontallappen gut funktioniert, haben wir die Wahl, ob wir essen werden, wann wir essen werden, was wir essen werden etc. Das sind alles Entscheidungen, die der Frontallappen trifft. Das Unterhirn sagt nur, dass wir Hunger haben. Und wir können uns sogar dagegen entscheiden, zu essen, auch wenn wir hungrig sind. Wenn aber der Frontallappen nicht richtig funktioniert, werden wir auf das Hungersignal einfach reagieren und uns damit auf verschiedene Art und Weise selbst sabotieren. Das ist ein Beispiel dafür, warum der Frontallappen so wichtig für unser langfristiges Wohlbefinden ist.
Und letztendlich auch für unsere Beziehung zu Gott, oder?
Ja, auf jeden Fall. Die meisten von uns sehnen sich doch nach einer innigeren Beziehung zu Gott! Das Gehirn ist das menschliche Organ, über das Gott mit uns kommuniziert. Daher tun wir uns einen Gefallen, wenn wir es pflegen, damit es so gut wie möglich arbeitet und unser Schöpfer einen größeren Einfluss auf uns haben kann.
Interview mit Dr. Neil Nedley vom 11.06.2017, niedergeschrieben, gekürzt und übersetzt von Magdalena Lachmann.