Übrig in der Gemeinde der Übrigen?

Gemeinde
Übrig in der Gemeinde der Übrigen?

Auf dem Weg zu einer singlefreundlichen Gemeinde

Ein erfülltes Leben allein? Ist das überhaupt möglich? Funktionierende Partnerschaft wird heute nicht nur als DIE Voraussetzung eines glücklichen Lebensentwurfs angesehen, sie gilt auch als Idealstatus und Erkennungsmerkmal eines „guten Christen“. Luise Schneeweiß spricht darüber, welche Gefahren das mit sich bringt und inwiefern unsere Kirche dringend umdenken sollte.

Immer mehr Singles!
Statistische Erhebungen zeigen, dass der Anteil der Singles in der Adventgemeinde erheblich zugenommen hat. In bestimmten Regionen Europas machen Singles bereits ein Drittel der Gemeinde aus, bei den Unter-30-Jährigen sind über 50 % alleinstehend. Insgesamt trifft das häufiger auf Frauen zu als auf Männer.

Dabei hat Singlesein viele Facetten. Da gibt es die klassischen Singles, die noch nie einen festen Partner hatten, aber es gibt auch Verwitwete, Getrennte und Geschiedene, einige davon alleinerziehend oder mit erwachsenen Kindern. Auch eine andere sexuelle Orientierung kann bedeuten, dass jemand sich für das Alleinleben entscheidet. Das zeigt, dass man Singles unmöglich alle in einen Topf werfen kann. Gemeinsam haben sie aber alle, dass sie nicht dem „Leitbild“ entsprechen, das wir als Gemeinde direkt oder indirekt zum Ausdruck bringen.

Unterrepräsentiert und vulnerabel
Während wir in unserer Gemeindestruktur Abteilungen für Ehe, Frauen, Familie und Erziehung haben, gibt es keine Struktur für Alleinlebende. Verantwortungsträger in der Gemeinde (Pastoren, Gemeindeleiter) sind mit überwältigender Mehrheit verheiratet und repräsentieren diese Gruppe daher auch nicht ausreichend. In den letzten 20 Jahren haben wir besonders viele junge Erwachsene verloren. Das ist genau die Personengruppe, die am häufigsten (noch) Single ist. Gibt es hier vielleicht einen Zusammenhang?

Die „Singledizee“-Frage
Eine Empirica-Studie unter christlichen Singles hat ermittelt, dass nur ca. 4 % aller gläubigen Singles ihr Alleinleben als göttliche Berufung betrachten.1 Mit anderen Worten: Die Wenigsten haben ihr Singlesein selbst gewählt und geplant.

Das dauerhafte ungewollte Alleinbleiben löst für manche eine Krise aus.2 Im Buch zur Empirica-Single-Studie wird dafür der Begriff der Singledizee-Frage geprägt (anspielend auf die sogenannte Theodizee-Frage, warum Gott das Leid zulässt).3 Sie lautet sinngemäß: Wenn Gott Ehe und Familie will und ich mir so sehr einen Partner wünsche – auch darum gebetet habe –, warum bleibe ich dann allein? Hat Gott mich übersehen? Es ist davon auszugehen, dass diese Frage mit dazu beiträgt, dass manche junge Menschen die Gemeinde verlassen.

Vorurteile gegen Singles
Anstatt Hilfestellungen zu geben, wird Singles leider oft mit Vorurteilen begegnet:

  • Allein bleiben nur Menschen mit Defiziten. Unbedachte Aussprüche wie „Du siehst doch gar nicht so schlecht aus!?“ oder „Der ist Single? Der ist doch eigentlich total nett!?“ offenbaren, was leider viele im Herzen denken: Wer attraktiv und interessiert ist (und genug betet!), der wird auch jemanden finden. Das ist aber ein Mythos. Gravierende Defizite in der Persönlichkeit können zwar die Partnersuche beeinträchtigen, es spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle. Es gibt rein demografisch gesehen nicht für jeden einen Partner.4
  • Richtig erwachsen ist man erst, wenn man verheiratet ist. Partnerschaft und Ehe gilt als ein Entwicklungsschritt, den man neben Schule und Berufsausbildung zu erledigen hat, um wirklich im Leben zu stehen. Singles gelten als „gescheiterte Existenzen“, denen man eher mit Mitleid begegnet und die man nicht ernst nimmt.5
  • Allein bleibt, wer sich nicht genug bemüht hat, zu unabhängig oder zu anspruchsvoll ist. Solche Unterstellungen werten Singles als faul, egoistisch oder eingebildet ab – und das in Bereichen, in denen Außenstehende gar keinen Einblick haben.

Wohlmeinende Ratschläge
Auch in manchen gutgemeinten Ratschlägen offenbaren sich Vorurteile über Singles: Fahre doch mal auf diese Freizeit! Logge dich bei dieser Partnerbörse ein! Zieh dich anders an! usw. Damit sagt man im Grunde nichts anderes als: Wenn du alles richtig machen würdest, wärst du nicht mehr allein!

In der Gemeinde hören Singles auch manchmal ein vielsagendes „Ich bete für dich!“. Leider geht es in diesen Gebeten nicht darum, dass der Single sein Leben gut bewältigt, im Glauben wächst, gute Freunde findet usw., sondern ausschließlich darum, dass der störende Singlestatus beseitigt wird. Solche Gebete, ebenso wie Versuche, Alleinstehende zu verkuppeln, sind keine Hilfe, sondern verletzen eher, weil sie wieder nur eine Option für ein gelungenes Leben aufzeigen.

Faule Kompromisse
Wenn wir als Gemeinde den Eindruck vermitteln, dass nur in Ehe und Familie ein sinnvolles Leben zu finden ist, erhöhen wir den Druck auf junge Singles, sich um jeden Preis in eine Beziehung zu bewegen. Damit tragen wir mit dazu bei, bereits existierende Versuchungen zu vergrößern:

  • Partnersuche wird Lebensinhalt. Anstatt die Jahre des Alleinlebens zur Vertiefung der eigenen Beziehung zu Gott oder dem selbstlosen Dienst am Mitmenschen und der Mission zu widmen, raubt die Frage der Partnerwahl Zeit und Energie. Junge Menschen werden in ihrem Leben mit Gott blockiert und daran gehindert, ihm ihre Lebensplanung völlig anzuvertrauen.
  • Fragwürdige Beziehungen. Wenn Alleinleben um keinen Preis in Frage kommt, hält man lieber an einer schlecht funktionierenden Beziehung fest oder sieht sich darin im Recht, einen Partner außerhalb der Gemeinde zu suchen. Immer mehr junge Menschen wählen diesen Weg, da Gott ja nicht wollen könne, dass sie unglücklich (sprich: Single) bleiben. Kompromisse in Beziehungsfragen stellen aber ein erhebliches Risiko für den eigenen Glauben dar, auch für die Kinder, die aus so einer Beziehung einmal erwachsen.6
  • Pornografie und Unzucht. Der Gedanke, dass sinnerfülltes Leben und Glück nur durch Sexualität und Partnerschaft möglich sind, stürzt manche in einen Teufelskreislauf von Selbstmitleid, Isolation und moralischem Versagen. Es wird nicht als reale Möglichkeit betrachtet, enthaltsam und zufrieden zu leben, obwohl Gott genau das geben kann.

Singles stärken
Singles sind in ihrem Glauben und Selbstwertempfinden herausgefordert. Anstatt sie weiter zu verunsichern, brauchen sie es, dass man sie als erwachsene Personen ernst nimmt und respektiert.7 Ebenso wichtig ist es, dass sie sozial eingebunden sind und gute Freundschaften haben.

Vor allem muss die Gemeinde eine realistische und attraktive Lebensperspektive für Singles aufzeigen. Solange nur Ehe und Familie als Ideal erhoben werden, vermittelt man Singles automatisch den Eindruck, dass sie Menschen zweiter Klasse sind. Es ist aber wichtig, Ehe- und Singleleben als gleichwertige Lebensentwürfe darzustellen, so wie es die Bibel auch tut.8

Keine romantische Idealisierung von Ehe und Familie
Es gab Zeiten in der Kirchengeschichte, in der Enthaltsamkeit und Alleinleben als besonders heilig idealisiert wurden (Zölibat, Klosterleben). Heute sind wir in manchem freikirchlichen Kontext eher im anderen Extrem angekommen und die Ehe gilt als das Nonplusultra. Die sogenannte „Purity Culture“9 in den USA z.B. suggeriert, dass auf diejenigen, die sich sexuell enthalten, als „Belohnung“ eine extrem erfüllende Sexualität in der Ehe wartet.

Leidtragende einer solchen Verklärung der Ehe sind nicht nur Singles, sondern auch viele Heiratende, die auf dem unsanften Boden der Realität aufkommen. In der Ehe warten neue Herausforderungen, die jene des Alleinseins sogar übersteigen können. Ein realistisches Bild von Ehe hilft Singles, sich selbst nicht als die großen Verlierer zu sehen, sondern auch ihren eigenen Stand schätzen zu können.

Was kann die Gemeinde für Singles tun?
Sabbate, Wochenenden, Feiertage und Urlaub sind jene Zeiten, in denen Singles ihr Alleinsein am meisten spüren und möglicherweise darunter leiden. Im Arbeitsleben sind sie eingebunden und gefragt, an freien Tagen entfällt das. Während viele Familien am Sabbatnachmittag gemeinsame Zeit genießen, wartet auf einen Single vielleicht nur eine leere Wohnung.

Wer es sich einrichten kann, ab und zu einen oder mehrere Singles einzuladen, wird einen großen Unterschied in deren Leben machen. Schließlich sind Singles auch gerne mit Familien zusammen. Das sollte aber nicht aus herablassendem Mitleid für den „armen“ Single geschehen, sondern in aufrichtiger Wertschätzung. Auch wenn die Initiative von beiden Seiten ausgehen kann, ist es für Familien oft leichter, noch einen Teller mehr zu füllen, als für einen Single, eine Familie einzuladen (z.B. kleinere Wohnung, weniger „Ausrüstung“ etc.). Vielleicht ergeben sich auch Synergien, wenn z.B. der Single gerne mit Kindern umgeht. Kinder aus solchen single-offenen Familien erleben nebenbei, dass auch Alleinstehende „normal“ sind – eine Erkenntnis, die ca. 30 % von ihnen einmal dringend brauchen werden!

Freundschaft aufwerten
Nicht jeder kann Partnerschaft erleben. Doch sollte es auch für Singles möglich sein, mit vertrauten Menschen tiefe Gespräche zu führen, etwas zu unternehmen, Umarmungen und angemessene Nähe zu erleben. Wer seine sozialen und emotionalen Bedürfnisse auf legitime Weise stillen kann, ist gegen Versuchungen besser gerüstet und wird auch die Liebe Gottes eher als real empfinden. Hier kann Gemeinde einen ganz wichtigen Beitrag leisten.

In der Bibel haben Freundschaften einen hohen Stellenwert – denken wir an David und Jonathan, die übrigens beide auch verheiratet waren, oder an Jesus und die Jünger. Wenn wir Ehe und Familie als den einzigen Ort definieren, an dem man sich wirklich von Mensch zu Mensch begegnen darf, berauben wir Singles um eine Perspektive für ein glückliches Leben. Deshalb brauchen wir als ganze Gemeinde einen neuen Blick auf Freundschaften und auf Beziehungen über den eigenen Familienkreis hinaus.

Im Himmel werden wir nicht mehr über unseren Status als Verheiratete oder Nicht-Verheiratete definiert, sondern erfüllende Gemeinschaft mit Gott und miteinander erleben. Wollen wir damit nicht heute schon beginnen?

Mit freundlicher Genehmigung des adventistischen Jugendmagazins Salvation+Service: www.salvationandservice.org

Quellen:
1 Künkler, Faix, Weddingen (Hrsg.), Christliche Singles, S. 63.
2 Das Annehmen-Können der eigenen Partnerlosigkeit hat den statistisch tiefsten Wert zwischen 31-35 Jahren. Ab 45 Jahren tritt eine signifikante Verbesserung ein. Christliche Singles, S. 50.
3 Christliche Singles, S. 189.
4 Da Männer in Bezug auf Bildung und Sozialstatus statistisch gesehen eher „nach unten“ heiraten, Frauen aber eine Beziehung mindestens auf Augenhöhe anstreben, entsteht in christlichen Kreisen ein Missverhältnis zuungunsten von gebildeten Frauen und Männern mit niedrigerem Bildungsstand. Christliche Singles, S. 20, 31, 147. Zudem gibt es in den meisten christlichen Kirchen ohnehin mehr Frauen als Männer.
5 In der säkularen Gesellschaft ist Singlesein anerkannt und gilt als progressiv, man darf aber nicht vergessen, dass zwar das Nicht-Heiraten gesellschaftsfähig ist, keinesfalls aber die sexuelle Enthaltsamkeit.
6 In Kapitel 9 vom Buch The Adventist Home widmet sich Ellen White dem Thema Beziehung zu Andersgläubigen.
7 In der Empirica-Singlestudie wurde bei der Frage, was sich Singles von ihren Gemeinden wünschen, am häufigsten der Wunsch nach mehr Anerkennung geäußert. 30 % der befragten Singles fühlen sich von ihrer Gemeinde stigmatisiert. Christliche Singles, S. 77, 73.
8 Zur Zeit Jesu war Singleleben auch verpönt und schlecht angesehen. Männliche Singles wurden als „Eunuchen“ verspottet. Jesus stellt sich dem entgegen und wertet das Alleinleben auf (Mt 19,10-12). Er bewies durch sein eheloses Leben, dass man auch ohne eine sexuelle Beziehung vollständig Mensch nach dem Bilde Gottes ist!
9 Gemeint ist eine Bewegung, die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert, von der wir als Adventisten auch Teil sind. „Ungeküsst und doch kein Frosch“ von Joshua Harris ist eines der einflussreichsten Bücher.

Urheberrechtshinweis

Die durch die Seitenbetreiber erstellten Inhalte und Werke auf diesen Seiten unterliegen dem deutschen Urheberrecht. Die Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und jede Art der Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtes bedürfen der schriftlichen Zustimmung des jeweiligen Autors bzw. der Redaktion. Die Autoren verfassen Artikel nicht zur freien Veröffentlichung z.B. Internet oder auf Social Media-Plattformen. Es ist daher nicht gestattet, Inhalte von BWgung ohne Erlaubnis zu veröffentlichen.