Das unsichtbare Haus

Leben
Das unsichtbare Haus

Wenn eine Gemeinde ihr Herz öffnet

„Es war der 24. Februar 2022, ein Donnerstagmorgen um halb fünf, als die ersten Bomben fielen. Raketen flogen tief über unserem Haus, der Lärm war ohrenbetäubend. Wir hatten entsetzliche Angst und rannten in den Keller. Dort gab es kein Licht und es war sehr kalt.“ Mit diesen Worten beginnt Viktoria ihre bewegende Fluchtgeschichte, die hier von Anemone Neumann erzählt wird.

Viktoria (32) laufen Tränen über die Wangen, während sie sich an diesen Tag erinnert. Damals lebte sie mit ihrem Mann (33) und ihrem Sohn Denis (9) in einem Kiewer Vorort. Die kleine Familie besuchte die dortige Adventgemeinde und setzte sich mit ganzem Herzen für die Verbreitung der Ad-ventbotschaft ein. Viktoria war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger, ihr Kind sollte in zwei Tagen zur Welt kommen.

Die Eltern überlegten fieberhaft, wie es weitergehen könne. Krankenhäuser mussten aufgrund des ständigen Bombardements geschlossen werden, die Versorgungslage in den Geschäften war zusammengebrochen. Als ein befreundeter Glaubensbruder ihnen einen Kanister Benzin schenkte, konnte sich die Familie mit ihrem Auto auf den Weg Richtung Westen machen. Von Bombenkratern übersäte Straßen, tieffliegende Raketenflugzeuge, Panzerkolonnen, von denen man nicht wusste, zu welcher Seite sie gehörten, sowie Kälte, Hunger und Angst waren ihre Wegbegleiter. Viktoria hatte immer wieder Wehenschmerzen und fühlte, dass die Geburt nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Deshalb fuhr ihr Mann jeweils über Ortschaften, in welchen es Adventgemeinden gab, wo sie sich ausruhen konnten, und für alle Fälle auch ein Krankenhaus. Von Geschwistern versorgt, verbrachten sie den Sabbat in der Gemeinde Lwiw.

Aufgrund der kaputten Straßen kamen sie auf vielen Umwegen nach drei Tagen schließlich in der Nähe der Grenzstadt Uschgorod an. Tausende von Fahrzeugen verstopften die Fahrwege und schließlich kam ihr Auto in einem über 50 km langen Stau zum Stehen. Ein Weiterfahren schien unmöglich und Viktorias Wehen wurden immer heftiger. Das Ehepaar war verzweifelt. Es konnte nichts weiter tun als beten. „Gott hielt seine schützende Hand über uns. Er schickte uns Hilfe durch die Polizei.“ Diese hatte alle 10 km Straßensperren eingerichtet, um die Ausnahmesituation der Menschen innerhalb des langen Staus nicht eskalieren zu lassen. Fahrzeuge durften nicht ausscheren bzw. überholen, damit die Gegenfahrbahn für Militärfahrzeuge frei blieb. Als die Polizisten Viktorias dringliche Situation erkannten, machten sie einen Korridor für sie frei und eskortierten sie von einem Checkpoint bis zum nächsten. „Wir fuhren wie von Engeln geführt am Stau vorbei, direkt in das städtische Krankenhaus.“ Dieses war bereit, Viktoria aufzunehmen und hier kam am Sonntag, den 27. Februar 2022, ihr zweiter Sohn, Daniel, gesund zur Welt.

Doch die Eltern hatten große Angst um das Neugeborene. Auch in der Westukraine herrschte der Ausnahmezustand, auch hier hörte man mittlerweile mehrmals täglich die Sirenenwarnsignale. Jedes Mal suchte die Familie in einem dunklen und kalten Keller Schutz vor möglichen Bombenangriffen. Vier Wochen hielten sie sich noch in Uschgorod auf, bis Viktorias Gesundheitszustand wiederhergestellt war. Dann entschieden die Eltern schweren Herzens, dass Viktoria mit den beiden Söhnen die Flucht in den Westen versuchen sollte. Ihr Mann brachte seine Familie mit dem Auto zur Grenze und „ab da schafften wir es, mit Hilfe eines deutschen Pastors als Fahrer bis nach Deutschland zu kommen.“

Über ein Hilfsangebot der Abteilung für Erziehung und Bildung an die Ukrainische Union erfuhr Viktoria, dass es in Baden-Württemberg adventistische Schulen gibt. Sie nahm Kontakt zu einer russischsprechenden Mitarbeiterin der Salomo-Schule auf und fand über sie den Weg nach Rastatt. „Gott hat uns Hilfe geschickt, als wir sie am nötigsten brauchten. Er hat Schritt für Schritt alles vorbereitet“, sagt sie rückblickend über ihre Erfahrungen auf der Flucht.

Heute bewohnt die junge Mutter mit ihren beiden Söhnen ein kleines Zimmer und ist sehr glücklich, dass Denis auf die adventistische Schule gehen kann. Neben einer Vorbereitungsklasse für ukrainische Kinder fand hier parallel sogar ein kostenloser Sprachkurs für Erwachsene statt. Ihr größter Wunsch für die Zukunft ist, dass ihr Mann seine Söhne aufwachsen sehen kann. Dieser darf das Land nicht verlassen und arbeitet weiterhin als Gemeindeältester in der Nähe von Kiew. Er betreut und versorgt Menschen, die in der dortigen Ortsgemeinde Hilfe suchen und viele Sorgen sowie Ängste um ihre Zukunft haben.

Viktoria sagt: „Ich bin sehr traurig, dass ich mein Haus nicht mehr habe, aber ich bin unendlich dankbar, dass ich ein unsichtbares Haus habe. Es ist überall dort, wo es eine Gemeinde gibt. Hier habe ich Menschen gefunden, die für mich da sind.“

Die Adventgemeinde Rastatt war seit Beginn des Krieges (und ist es immer noch) Anlaufstelle für etwa 100 ukrainische Flüchtlinge. Buchstäblich über Nacht kam ein ganzes Netzwerk der Hilfsbereitschaft ins Rollen: Sachen wurden gespendet, Behördengänge begleitet, Wohnungen gesucht, Sprachkurse für Kinder und Erwachsene an der Gemeindeschule organisiert uvm. Sie ist inzwischen zur neuen geistlichen Heimat von ca. 70 ukrainischen Geschwistern geworden.

Anmerkung der Redaktion: Inzwischen hat Gott es so geführt, dass Viktorias Mann auch nach Deutschland kommen konnte und die Familie nun endlich wieder vereint ist.

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