Bibel und Glaube
Ruft die Bibel zur Prügelstrafe auf?
Je gläubiger die Eltern, desto eher schlagen sie ihre Kinder. Zu diesem Ergebnis kam Kriminologe Christian Pfeiffer nach seiner Studie1 unter freikirchlichen Christen. Dabei stellte sich heraus, dass bei knapp achtzig Prozent der Befragten Schläge zur Erziehung gehören. Die „Züchtigung“ begründen Gläubige oft damit, dass die Bibel uns dazu auffordert. Wie etwa in Sprüche 13,242, wo es heißt: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.“ Ist hier allerdings tatsächlich körperliche Bestrafung gemeint?
Gleich zu Beginn des Sprüche-Buches erfahren wir, dass die folgenden Verse in erster Linie Weisheiten sind3: „Dies sind die Sprüche Salomos, des Sohnes Davids [...], um zu lernen Weisheit und Zucht und zu verstehen verständige Rede.“ (Spr 1,1-2; Hervorhebungen durch die Redaktion) Es geht hier also um eine Bildsprache, die besonders deutlich wird, wenn wir zum Beispiel von einer Grube lesen, in die jemand selbst hineinfällt, wenn er sie anderen gräbt (Spr 26.27).4 Diese Weisheit setzt keiner von uns buchstäblich um, da sie im übertragenen Sinne gemeint ist. Oder hast du schon beobachtet, wie deswegen lauter Löcher in der Nachbarschaft gebuddelt werden? Welche Weisheit möchte uns also der Text in Sprüche 13,24 mitgeben?
Schaut man sich den hebräischen Begriff für „Rute“ (hebr. shebet) an, fällt auf, dass er viele Bedeutungen haben kann: z.B. Stab (eines Hirten), Stock, Zepter (eines Königs) oder Volksstamm (im Sinne eines Stammbaums). Der adventistische Bibelkommentar schlägt vor, dass der Begriff „Rute“ in diesem Kontext als ein Symbol einer pädagogischen Handlung verstanden werden kann.5 Darüber hinaus ist der Begriff „züchtigen“ (hebr. musar) eigentlich ein Substantiv. Er steht für Züchtigung, Zurechtweisung, Verwarnung, Erziehung und Bildung. So vermittelt musar eindeutig einen pädagogischen Ansatz, welcher im Sinne einer verbal-kommunikativen Erziehung (statt einer konkreten physischen Bestrafungshandlung) stattfindet. Nicht ohne Grund spricht man an dieser Stelle von einer Redewendung. Das bedeutet, dass sich die Deutung nicht ausschließlich aus den Bestandteilen der Wörter (shebet und musar) ableiten lässt.6 Bereits Sprüche 13,18 legt übrigens die enge Verbindung zwischen „Zucht“ und „sich zurechtweisen lassen“ dar.7 Auch die grammatische Form von „Züchtigung“ in Sprüche 13,24 betont die pädagogische Wirkung – anstelle des Ergebnisses einer aktiven Handlung. Unterstützung bekommt dieser Gedanke von der hebräischen Verbform „züchtigen“ (hebr. jasar). Dieser Begriff wird in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments (Septuaginta) immer als „erziehen“ oder „unterweisen“ (griech. paideuo) wiedergegeben. Es sind zurechtweisende Worte, die erziehen (5 Mo 4,36; 8,5; Spr 31,1; Jes 28,26).8 Dies hat auch Ellen G. White bestätigt, als sie schrieb, dass die Gespräche mit ihren Kindern jedes Mal Einsicht bewirkten.9
Unter Berücksichtigung der erwähnten Beobachtungen, schlägt Dr. Thomas Haller vor, in Sprüche 13,24 die „Rute“ im Sinne einer pädagogischen „Verantwortung“ zu verstehen.10 Ich stimme ihm zu und gehe noch einen Schritt weiter, auch die „Zucht“ als „Erziehung“ zu betrachten. Dann lautet der Text nämlich so: „Wer seine [Verantwortung] schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der [erzieht] ihn beizeiten.“ Für mich steht außer Frage, dass Gott in diesem Spruch an die elterliche Verantwortung der Erziehung appelliert und jeden aufruft, in eine herzliche und liebevolle Beziehung zu seinen Kindern zu treten, die klare Grenzen aufzeigt und straft, wenn Grenzen überschritten werden. Kinder sind die verletzlichsten Wesen unserer Gesellschaft. Sie sind keine Tiere, die wir „unter allen Umständen mit Hilfe eines Stockes, einer Peitsche oder der Hand beherrschen.“11 Darum lasst uns unsere Kinder so behandeln, wie auch wir behandelt werden möchten!
Quellen:
1 Christian Pfeiffer, Gegen die Gewalt – Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind, Kösel-Verlag, München, 2019.
2 Weitere Beispieltexte wären u.a.: Ps 89,32-33; Spr 3,12; 10,13; 22,15; 23,13-14; 29,15; Off 3,19 uvm.
3 Gott gab Salomo ein „weises und verständiges Herz“ (1 Kön 3,12); er dichtete 3.000 Sprüche und 1.005 Lieder (1 Kön 5,12). Diese können wir in der Weisheitsliteratur der Bibel nachlesen.
4 Weitere Sprüche in Bildsprache wären: Num 33,55; Deut 28,29; Hi 4,15; 15,32; Ps 7,10; 26,6; 127, 2; Spr 16,9; 16,18; Mt 6,2; 7,15; Apg 4,32.
5 Francis D. Nichol, The Seventh-day Adventist Bible commentary: The Holy Bible with exegetical and
expository commentary, vol. 3, Washington, DC, 1954, 993; vgl. R. Laird Harris, Theological Wordbook of the
Old Testament, Vol 2, Chicago, 1980, 897.
6 Roland E. Murphy, Word Biblical Commentary Proverbs, vol. 22, Texas, 1998, 95.
7 In Spr 14,3 werden „Rute“ und „Mund“ miteinander verglichen.
8 Ernst Jenni, Claus Westermann, Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament – Band I, München, 1971, 739. Die griechischen Begriffe umfassen die mentale, moralische und soziale Dimension der Pädagogik.
9 Ellen G. White, Wie führe ich mein Kind?, S. 141.
10 https://bit.ly/2WxRf2g, zugegriffen am 09.11.2020.
11 Ellen G. White, Wie führe ich mein Kind?, S. 139.